Vom Kultobjekt zum Werkzeug
Röntgenanalysen zeigen: Die Himmelsscheibe von Nebra wurde mehrfach überarbeitet
von Antonia Rötger
Die Himmelscheibe von Nebra
Berlin - "Als ich zum ersten Mal die Scheibe sah, konnte ich nicht glauben, dass sie echt ist", erinnerte sich Harald Meller, Leiter des Landesamtes für Archäologie von Sachsen-Anhalt. Es schien unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Menschen in Mitteleuropa schon vor rund 3600 Jahren das handwerkliche und astronomische Wissen hatten, das in dieser Scheibe zum Ausdruck kommt. Das gut zwei Kilogramm schwere und mit einem Durchmesser von 32 Zentimeter etwa pizzagroße Objekt wurde seit seiner spektakulären Sicherstellung aus den Händen von Raubgräbern im vergangenen Jahr eingehend untersucht.
Gestern stellten eine Reihe von Forschern die neuesten Ergebnisse der Materialanalysen vor, die am Berliner Elektronenspeicherring für Synchrontronstrahlung (Bessy) gewonnen wurden. Denn nach ersten Analysen waren keine Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung der einzelnen Goldauflagen nachweisbar. Doch dass der Kultgegenstand in einem Arbeitsgang gefertigt wurde, wollten Archäologen nicht glauben. Zu Recht, wie nun die Bessy-Messungen zeigen. Denn die geochemischen Fingerabdrücke der verschiedenen Goldobjekte unterscheiden sich in ihrem Zinngehalt, stellten jetzt Wissenschaftler um Professor Ernst Pernicka von der Bergakademie Freiberg in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Materialforschung fest. Dafür nutzten sie die Methode der Synchrotron-Röntgenfluoreszenzanalyse am Bessy, die auch geringe Spuren von Zinn sichtbar macht. Die feinen Unterschiede in der Zusammensetzung des Goldes weisen darauf hin, dass die Scheibe immer wieder ergänzt und verbessert wurde. In der ersten Phase wurden der große Kreis (Sonne oder Vollmond) und die Sterne aufgebracht. Der Handwerksmeister grub dafür Kanäle in die Bronzeplatte, legte die zugeschnittenen Goldbleche hinein, hämmerte die Gruben mühsam mit einem harten Meißel zu und klemmte so die Goldbleche mechanisch ein. Archäochemiker Christian-Heinrich Wunderlich vom Landesamt für Archäologie in Sachsen-Anhalt experimentierte selbst mit dieser Technik, um den Kniffen auf die Spur zu kommen. Er meint, dass der Handwerksmeister diese so genannte Tauschiertechnik im Vorderen Orient erlernt haben könnte, sie aber zu einer lokalspezifischen "Nebra-Technik" weiterentwickelt hat. In der zweiten Phase kamen die Horizontbögen hinzu, die gute astronomische Kenntnisse erfordern. Drei Sterne wurden dabei versetzt. In dieser Phase beherrschte der Meister sein Werkzeug, wenige Schläge genügten, um die Arbeit auszuführen, erläuterte Wunderlich. Die Horizontbarke wurde in der nächsten Phase eingefügt.
Welche mythologische Bedeutung die damaligen Astronomen mit dem Schiff verbanden, bleibt im Dunklen. Möglicherweise haben sie das Motiv durch Reisen in den Vorderen Orient und Griechenland kennen gelernt. In der letzten Phase wurde die Scheibe am Rand gelocht. Die grobe Ausführung deutet darauf hin, dass die Himmelsscheibe ihre sakrale Bedeutung allmählich eingebüßt hatte und zum astronomischen Werkzeug geworden war.
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