@Zythran:
Genau diese "Objektivität" - Ich würde vielleicht eher von einer Fähigkeit zur Distanznahme sprechen - ist für die philosophische Methode unabdingbar. Und tatsächlich ist sie einer der wichtigsten Inhalte, die im Philosophieunterricht idealerweise vermittelt werden sollen. Ich persönlich halte dieses Ziel nicht für so unerreichbar, wie du es hier beschreibst.
Da ich im zweiten Fach Germanistik studiere, kann ich zum Thema der Buchinterpretation auch ein bisschen was sagen. Natürlich ist eine Interpretation immer eine subjektive, persönliche Angelegenheit; aber das bedeutet nicht, dass man in einen Text irgendetwas Beliebiges hineininterpretieren kann. Es gilt nämlich zu beachten, dass sich die Interpretation am Text belegen lässt. Jede These erfährt ihre Fundierung dadurch, dass ein direkter Zusammenhang zwischen ihr und dem Text selbst aufgezeigt wird. Auch dabei ist wieder die innere Folgerichtigkeit entscheiden, die sich durchaus bewerten lässt.
Wenn du bisher in erster Linie Lehrer kennengelernt hast, die ihre eigene Interpretation und sonst nichts zulassen, dann hast du ganz einfach das Pech gehabt, an schlechte Lehrer zu geraten.
Mit Bezug auf die Argumentation dieses Theologen, wie sie in dem verlinkten Beitrag aufgezeigt wird, halte ich meine Kritik für ziemlich sattelfest:
Der evangelikale Theologe und frühere Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz kritisiert, dass „mit fanatischer Einseitigkeit“ Irrwege der großen Religionen zum Wesen der Religion selbst erklärt würden.
Mit den "Irrwegen der großen Religionen" kann nur deren praktische Realisierung gemeint sein, da wohl kein Gläubiger das Prinzip seines Glaubens als von Irrwegen durchzogen charakterisieren würde. Seine Kritik richtet sich dagegen, dass diese Irrwege für eine prizipielle Kritik der Religionen herangezogen würden.
Das erweise sich allerdings für den Atheismus als Bumerang, denn gerade das 20. Jahrhundert habe mit den atheistischen Ideologien von Nationalsozialismus und Kommunismus zum Massenelend geführt."
Naja, wenn man es ganz genau betrachtet, stellt er sich schon ein kleines Bisschen geschickter an, als ich es zunächst behauptet habe; denn eigentlich erklärt er lediglich, dass, WENN die Kritik der Atheisten an den großen Religionen zutreffend wäre, mit derselben Berechtigung auch seine Kritik am Atheismus greifen würde.
Nur was hat er mit einer solchen Argumentation gewonnen? Es gibt zwei Alternativen: Entweder die Kritik erweist sich als berechtigt, womit sie SOWOHL die großen Religionen ALS AUCH den Atheismus in voller Schärfe treffen würde, oder aber sie erweist sich als unzutreffend, womit SOWOHL die großen Religionen ALS AUCH der Atheismus sicher aus der Schusslinie wären. Entweder also kritisiert er neben dem Feindbild auch seine eigene Position in gleichem Maße oder er legitimiert die Gegenseite ebenso wie seine eigene.
Hätte er nun auf den zweiten Teil seiner Argumentation verzichtet, stünde da eine schlagkräftige und nachvollziehbare Aussage gegen den atheistischen Vorwurf. Diese verwässert der Theologe allerdings vollkommen, indem er das Prinzip der Kritik grundsätzlich legitimiert, indem er selber davon Gebrauch macht.